Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Däubler
Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Professor für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen, zum Thema: Digitalisierung und BetrVG – wohin geht die Reise?“
Welche Defizite hat das BetrVG in seiner derzeitigen Version?
Ich will nur drei nennen. Es gibt zu viele Betriebe ohne Betriebsrat. Eine erste Wahl ist für die Initiatoren mit großen Risiken verbunden und muss in einem komplizierten Verfahren erfolgen. Das sog. vereinfachte Wahlverfahren ist nicht „einfacher“, sondern – wenn es gelingt – nur schneller. Man sollte mit den Möglichkeiten der Informationstechnik Verfahren schaffen, wie der Einzelne wählen und kandidieren kann, ohne sich im Betrieb exponieren zu müssen. (siehe dazu den Fachbeitrag von Prof. Dr. Wolfgang Däubler, der in „Arbeitsrecht im Betrieb“ 2-2020 erscheinen wird)
Zum zweiten: Die Mitbestimmung knüpft an Einzelentscheidungen an: Überstunden in der Betriebsabteilung A, Kündigung des Arbeitnehmers X oder Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile durch eine konkrete Betriebsänderung. Was fehlt ist eine Erweiterung auf das Verfahren, das zu solchen Entscheidungen führt. Es fehlt insbesondere eine Beteiligung an Prozessen, die wie die Einführung neuer Techniken in vielen Etappen erfolgen. Dabei werden Weichen gestellt. Den Betriebsrat nur am Ende einzuschalten, genügt nicht.
Zum dritten. Der Betriebsrat kann über wirtschaftliche Fragen nicht mitbestimmen. Er ist auf die Bewältigung und Abfederung der Folgen beschränkt.
Bringt die Digitalisierung mehr Chancen oder eher Risiken?
Die Digitalisierung kommt nicht von heute auf morgen; sie ist ein Prozess. Wohin er in der Zukunft führt, weiß niemand so recht. Dies führt zu zahlreichen Spekulationen. Handfeste Konsequenzen gibt es aber schon heute in zweierlei Hinsicht.
Durch mobile Geräte wie Smartphone und Laptop können Arbeitnehmer zu jeder Zeit und von jedem Ort aus mit der Arbeit beginnen. Dies führt zu vielen unbezahlten Überstunden, weil Arbeitnehmer das zu Hause erledigen, was sie in ihren vertraglich vereinbarten 37 oder 40 Stunden nicht geschafft haben. Außerdem sind sie jederzeit erreichbar und können von ihrem Chef um die Erledigung eines „dringenden“ Auftrags gebeten werden. Wird dies im Betrieb oder in bestimmten Abteilungen oder bei bestimmten Beschäftigten generell „erwartet“, so liegt in Wahrheit Rufbereitschaft vor. Über ihre Länge und zeitliche Lage kann der Betriebsrat mitbestimmen, was er auch effektiv tun sollte.
Weiter stellt sich für viele das Problem des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz. Dabei geht es um Belastungen, die häufiger als früher zu psychischen Erkrankungen wie Burn-out führen. Hier kann der Betriebsrat intervenieren und über die zu ergreifenden Maßnahmen mitbestimmen.
Welche Rolle wird der Datenschutz spielen?
Je stärker die Arbeit digitalisiert wird, umso mehr fallen personenbezogene Daten an. Beispiele gibt es in großer Zahl. GPS informiert nicht nur über den Standort sondern auch über die Fahrweise, RFID-Chips verfolgen den Arbeitsprozess und ermöglichen Rückschlüsse auf das Verhalten einzelner Personen. Wearables messen Pulsfrequenz und Blutdruck. Auch die Personalarbeit wird digitalisiert. Auf der Grundlage von Big Data können Algorithmen entwickelt werden, die Kriterien für den „idealen“ Arbeitnehmer enthalten; wer ihnen möglichst nahe kommt, wird eingestellt und befördert; andere fallen durch.
Ist das BetrVG 2020 für die Digitalisierung gut aufgestellt?
Der Betriebsrat kann gerade im Bereich der Informationstechnik und damit der Digitalisierung von seinem Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG Gebrauch machen. Dabei kommt es entscheidend auf Sachkunde und auf das Zeitbudget an. Nicht anders als die Geschäftsführung braucht der Betriebsrat seine Experten. Und diese müssen über Zeit verfügen, um die Arbeitnehmersicht wirksam in die Entscheidungsprozesse einzubringen. Der Betriebsrat muss selbst entscheiden können, wen er wie lange heranzieht. Eine vorherige Genehmigung des Arbeitgebers wie nach dem heutigen § 80 Abs. 3 BetrVG ist nicht mehr akzeptabel. Hier geht es in erster Linie darum, die Mitbestimmung nicht nur abstrakt anzuerkennen, sondern sie auch in der Realität wirksam werden zu lassen.
Ein Blick in die Zukunft: Welchen Herausforderungen muss sich das BetrVG im Jahr 2030 stellen?
Die Herausforderungen werden im Kern dieselbe sein wie heute: Trotz Individualisierung gemeinsames Handeln ermöglichen, mit der schnellen technischen Entwicklung Schritt halten, eine Perspektive entwickeln, wie die Digitalisierung nicht nur der Gewinnsteigerung, sondern auch dem Menschen dient. Dies sind Aufgaben, die nicht jeder Betriebsrat für sich bewältigen kann; hier ist insbesondere kreatives Denken bei den Gewerkschaften gefragt. Nur dann wird der Bundestag das Gesetz an veränderte Bedingungen anpassen.