Interview mit Sibylle Wankel
Interview mit Sibylle Wankel, Justitiarin der IG Metall, zum Thema: „Aktuelle Herausforderungen der Tarifbindung“
Was sind aus Ihrer Sicht die Knackpunkte bei diesem Thema für die Arbeitnehmerseite in den kommenden zwei bis drei Jahren?
Tarifverträge bilden nach dem Verständnis des Grundgesetzes den Ordnungsrahmen für die Arbeitsbedingungen in Deutschland. Die Praxis zeigt jedoch ein völlig anderes Bild, denn die Tarifbindung sinkt seit Jahrzehnten kontinuierlich und hat mit einer Flächentarifbindung von nur noch 25 Prozent der Betriebe und 46 Prozent der Beschäftigten einen neuen Tiefstand erreicht. Damit ein Tarifvertrag seiner Gestaltungs- und Ordnungsfunktion auch künftig gerecht werde kann, wird es in den nächsten Jahren vor allem darauf ankommen, diesen Trend nicht nur zu stoppen, sondern umzukehren.
Sinkende Tarifbindung sorgt nicht nur für eine weitere Aufspaltung der Arbeitsgesellschaft, sie gefährdet auch den gesellschaftlichen Konsens für gute und sichere Arbeit. Meiner Meinung nach ist das nicht nur ein Problem für die Gewerkschaften. Digitalisierung, Elektrifizierung und Dekarbonisierung sorgen insbesondere im produzierenden Gewerbe für Umbrüche, die Unternehmen nur meistern können, wenn sie die Gestaltungsaufgabe zusammen mit der Arbeitnehmerseite annehmen. Faire Branchenstandards für Beschäftigungssicherung, Qualifizierung und Investitionen lassen sich dabei nur tariflich regeln, nicht dagegen über Betriebsvereinbarungen. Hinzu kommt aktuell eine sich eintrübende Wirtschaft. Auch in dieser Situation bieten Tarifverträge das beste Gegenmittel, indem sie Solidarität organisieren.
Sind die Gewerkschaften (ist die IG Metall) gut für die kommenden Tarif-Verhandlungen aufgestellt? Wo liegen Risiken und „Nebenwirkungen“?
Meine Antwort auf die erste Frage lautet bezogen auf die anstehende Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie eindeutig „ja“. Über unsere Betriebsräte und Vertrauensleute wissen wir aber auch, wie unterschiedlich die Auslastung der von uns betreuten Unternehmen ist. Darauf werden wir uns sowohl bei der Diskussion unserer Tarifforderungen als auch bei den Verhandlungen einstellen. Insbesondere in der Tarifrunde 2018 haben wir die Erfahrung gemacht, dass qualitative Forderungselemente sowohl bei unseren Mitgliedern als auch in der Öffentlichkeit gut ankommen.
Die IG Metall ist nicht mehr allein eine „Gelddruckmaschine“, wir können auch mehr Vereinbarkeit, mehr Freizeit, mehr Altersvorsoge und mehr Beschäftigung organisieren. Zu den Risiken zähle ich jede Verstärkung des Abwärtstrends im produzierenden Gewerbe – auch wenn die heutige Situation mit der vor 10 Jahren sicher nicht vergleichbar ist.
Welche Möglichkeiten stehen zur Verfügung, um eine breite Tarifbindung auch in Zukunft zu erhalten?
Am besten wäre es sicherlich, wenn alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einer Gewerkschaft beiträten, um flächendeckend den für einen Tarifabschluss notwendigen Druck entfalten zu können. Um dies zu erreichen, muss – und kann – die Mitgliedschaft auf unterschiedlichen Wegen gefördert werden. Nach meiner Überzeugung gehören dazu die gesetzliche Verankerung von Differenzierungsklauseln, die Stärkung der kollektiven Weitergeltung von Tarifverträgen bei Betriebsübergang und Outsourcing und verbesserte steuerliche Rahmenbedingungen.
Auch auf der Arbeitgeberseite wäre eine verstärkte Förderung der Mitgliedschaft in einem Tarifverband zulässig und wünschenswert, um künftig Wettbewerb wieder mehr über die Qualität von Produkten als über Lohndumping auszutragen. In Zeiten zunehmender Digitalisierung wird die Sicherung von gewerkschaftlichen Zugangsrechten zum Betrieb besonders wichtig – nicht nur jedes halbe Jahr und nicht nur in Person.
Wie sieht die Tariflandschaft in Deutschland in 10 Jahren aus?
Auch wenn es uns gelingt, den Trend bei der Tarifbindung umzukehren, werden wir – Juristen wie Gewerkschaften – künftig zwei Welten zu betreuen haben: In der einen sind Tarifverträge weiterhin stilbildend und nehmen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ihre gesellschaftliche Verantwortung angemessen wahr. Daneben wird es ein „Internet der Bedingungen“ geben, in dem es aufgrund der weltweiten Waren-, Daten- und Finanzströme nicht möglich sein wird, tarifliche Standards nachhaltig zu etablieren. Meine Vision ist, dass es uns dennoch gelingt, für diese „zweitbeste“ der beiden Welten möglichst viele gute Regeln zu etablieren.